Kim Jong Un ist ja grundsätzlich eine ziemlich unbekannte Größe. Eigentlich weiß man über ihn nicht viel mehr, als das, was uns die nordkoreanische Nachrichtenagentur KCNA so an Informationsbrocken hinwirft. Und das bezieht sich ja immer auf das, was der Junge aktuell tut. Über das, was er bis zu seinem Erscheinen auf der Bildfläche getan hat, wissen wir so ziemlich garnichts.
Warum Vermuten im Fall Nordkorea fast so gut ist wie Wissen
Aber das ist natürlich recht unbefriedigend für Medienschaffende und Analysten und deshalb greift man gerne auf das Vermuten als Ersatz zum Wissen zurück. Vermutungen sind ja auch schonmal eine feine Sache, aber es sind eben keine Fakten. Sie können mehr oder weniger begründet sein und sich aus verschiedenen Quellen speisen, aber im Endeffekt kann man erst sagen, dass man etwas weiß, wenn es einen Beweis gibt. Das macht das Hantieren mit Vermutungen ein bisschen riskant, denn wo ein Beweis aussteht, kann auch noch ein Gegenbeweis erbracht werden. Und alle Schlüsse, die man dann schon aus seinen Vermutungen gezogen hat sind hinfällig, ja man verliert sogar ein bisschen an Glaubwürdigkeit. Aber wo man nichts weiß, da kann man entweder nichts zu sagen, oder man muss vermuten, wenn man unbedingt etwas sagen will. Wenn es um Nordkorea geht, hat schon immer sowas wie ein Konsens bestanden, dass Vermutungen fast genauso gut sind wie Wissen, denn sonst müsste man ja zu so vielem Schweigen. Also schreibt oder sagt man einfach was man so gerade vermutet und versucht es noch irgendwie mit Beweisen zu füttern.
Die Sache mit Kim Jong Uns Schulkarriere in der Schweiz
Demensprechend wurde auch zu Kim Jong Un in den letzten Jahren schon sehrviel gemutmaßt und geglaubt, aber wenig gewusst. Eine der obskursten Storys aus diesem Feld ist sicherlich seine Schulausbildung. Danach hat er Ende der neunziger Jahre eine Schule in der Schweiz besucht. Aber natürlich nicht als Kim Jong Un, sondern als Un Pak, Sohn eines Schweizer Botschaftsangestellten. Dort soll er nicht besonders erfolgreich in der Schule gewesen sein, sich dafür aber für Basketball und Jean Claude van Damme interessiert haben. Klingt doch gut. Und wie wird diese Behauptung belegt? Durch eine Bildanalyse eines „morphologischen Gesichtsvergleichs“ und weil ein ehemaliger Klassenkamerad von Un Pak sagt, der hätte ihm vom Familienleben mit Diktatorenpapa Kim erzählt. Vor allem ist die Story aber nicht widerlegt und daher kann man vortrefflich darüber fabulieren, dass Kim Jong Un jahrelang unter demokratischen Bedingungen gelebt habe und Deutsch spreche, man also viel von ihm erwarten könne, oder sowas. Nur klingt das für mich alles noch nicht so wirklich überzeugend.
Den Mythos weitergesponnen
Heute habe ich dann eine Meldung gelesen, die mich vollends am gesunden Menschenverstand einiger Medienschaffender hat zweifeln lassen. Da ist nachzulesen, dass Kim Jong Un schon 1991 als achtjähriger in die Schweiz eingereist sei. Dort habe er dann weitere acht Jahre unter dem Synonym Un Pak als Sohn eines Botschaftsangestellten aufgehalten. Allerdings sei nicht bekannt, was er die fünf Jahre vor seiner bisher bekannten Schulausbildung auf der mittlerweile berühmten Steinhölzli Schule gemacht habe.
Absolut logisch…
Klar! Das ist die einzige logische Erklärung, denn schließlich kann man überall nachlesen, dass Pak Un (oder Un Pak) kein anderer als Kim Jong Un sein kann. Es ist höchstwahrscheinlich, dass Kim Jong Il seinen Sohn fast für ein Jahrzehnt irgendwohin weit weg von zuhause schickte, wo vollkommen andere gesellschaftliche Bedingungen herrschen, auf das er sich so gut wie möglich auf eine mögliche Diktatorenlaufbahn (oder Diktatorenbruderlaufbahn) vorbereite.
…und total abwegig
Total abwegig erscheint es dagegen, dass der junge der da 1991 in die Schweiz eingereist ist, Pak Un hieß und Sohn eines nordkoreanischen Botschaftsangestellten war. So ein Schwachsinn, was soll denn Kim Jong Un dann die ganze Zeit getrieben haben. Da hätten unsere ausgezeichneten investigativen Journalisten doch bestimmt was rausgefunden. Sie haben aber nur rausgefunden, dass ein Junge der Kim Jong Un ähnlich sah, für einige Zeit in der Schweiz gelebt hat. Also muss das Kim Jong Un sein.
Mögliche Mythosfortsetzungen
Tja, und wenn Kim Jong Uns Scheinvater 1998 nach Simbabwe oder Kuba versetzt wurde, wer weiß, vielleicht wurde der junge Diktator da auch noch ein paar Jahre ausgebildet. Wäre doch logisch! Und sollte irgendwann irgendwo mal ein Pak Un auftauchen, der bis 1998 auf einer Schweizer Schule war, dann gibt es dafür nur eine einzige logische Erklärung. Es lief alles so ähnlich ab wie bei „Der Mann in der Eisernen Maske“. Kim Jong Un wurde die Identität Pak Uns übergezwängt und auf dem Thron in Pjöngjang sitzt ein Roboterclon oder so. Alles logisch, oder! Hauptache es muss keiner eingestehen, dass man sich da irgendwann mal einen Quatsch zusammenrecherchiert hat in der Schweiz.
Mehr als eine witzige Fußnote
Das alles könnte man natürlich als witzige Fußnote abtun und sich damit begnügen, dass man das selbst ein bisschen anders sieht. Man kann natürlich auch anmerken, dass ich genausowenig beweisen kann, dass Kim Jong Un nicht in der Schweiz zur Schule ging, wie andere beweisen können, dass es so war. Und damit hätte man natürlich auch recht. Was ich allerdings sehr bedenklich finde, sind die Konsequenzen die sich daraus ergeben. Einerseits auf diesen konkreten Fall bezogen, weil wir uns möglicherweise ein falsches Bild von jemandem machen, den das Time Magazine zu den hundert einflussreichsten Persönlichkeiten der Gegenwart zählt und weil vielleicht auf Basis dieses falschen Bildes andere mächtige Leute Entscheidungen treffen, die sie anders getroffen hätten, wenn sie ein richtigeres Bild hätten. Also quasi falsche Entscheidungen.
Die Konstruktion unserer Realität – Ich mach mir die Welt, Widdewidde wie sie mir gefällt
Andererseits ärgere ich mich jedoch, weil dieser konkrete Fall nicht alleine steht, sondern vielmehr sinnbildlich für ein generelles Problem steht. Mangels echter Informationen glauben wir einfach irgendwelchen Gerüchten. Die werden dann eine Zeitlang als Gerüchte behandelt, doch je häufiger darüber geschrieben und je mehr an der Legende weitergesponnen wird, desto mehr konstruieren wir eine neue Realität der Vergangenheit. Aus dem Gerücht wird mehr und mehr ein Fakt. Zeitungen schreiben voneinander ab. Wikipedia beruft sich auf die Zeitungen. Die Zeitungen schreiben nochmal von Wikipedia ab und irgendwann berufen sich ein paar Wissenschaftler auf die Zeitungen. Spätestens dann ist eine neue Realität entstanden. Ein Wissenschaftler zitiert den Anderen und ein paar Jahre später kann man aus fünf Büchern und zwanzig Aufsätzen zitieren, dass Kim Jong Un in der Schweiz zur Schule gegangen sei. Und glaubt ihr, dann würde sich irgendwer noch die Mühe machen, die Herkunft der Geschichte nachzuprüfen? Nein, dazu ist ja keine Zeit mehr und wenn Wissenschaft, Medien und Wikipedia das schreiben, dann wird es schon stimmen.
Was ist/war real, was vermutet? Keine Ahnung.
Dieses Muster hat sich gerade im Fall Nordkoreas so sehr eingespielt, dass man im Endeffekt fast alles doppelt und dreifach nachprüfen müsste, weil man einfach nicht weiß, was auf gesicherten Quellen kommt und was von irgendwelchen Sushiköchen, Oberschülern oder Geheimdienstpropagandisten erfunden wurde, weil es gerade aus diesem oder jenem Grund passend war (ob es da um Supernotes geht, geheime Atomtests für den Iran, Verkauf von Raketen in den mittleren Osten (es gibt da Zahlen, die seit über zehn Jahren durch alle möglichen Publikationen geistern, ohne das ich je irgendeine Art von Beleg gesehen hätte, die aber fast jeder zitiert, weil Zahlen so was dolles sind) oder eben das Privatleben des einen oder anderen geliebten Führers). Im Endeffekt hat ja keiner was davon.
Realitätskonstruktion am Schweizer-Schwachsinnsschulbeispiel
Ihr mögt jetzt vielleicht sagen, dass sei alles garnicht so dramatisch und man schon nicht so schnell dabei ist, mit der Konstruktion von Realitäten, aber gerade dieser Schweizer-Schule-Schwachsinn (der vielleicht ja auch wahr ist, aber mir trotzdem schwachsinnig vorkommt), zeigt, wie schnell das geht. Das Gerücht ist so ungefähr drei Jahre alt und erhielt nochmal richtig Schub, als Kim Jong Un zum ersten Mal auftauchte und als Kim Jong Il starb. Spätestens zum Tod Kim Jong Ils hatten die Medien es als Fakt akzeptiert, dass Kim Jong Un in der Schweiz zur Schule gegangen war. Bei Wikipedia ist es löblicherweise immernoch als Gerücht gekennzeichnet, aber so lange dürfte das nicht mehr dauern. Schließlich beginnt man auch in der Wissenschaft langsam die neue Realität zu akzeptieren und stellt die Schweizer Zeit nicht mehr in Frage. So kann man in einem der Aufsätze, die ich gestern vorgestellt habe (derjenige, bei dem ich eigentlich nichts zu kritisieren hatte (was sich damit ändert und mich veranlassen sollte, genauer zu lesen)) lesen, es sei eine „Tatsache, dass Kim Jong Un als Schüler wenige Jahre in der Schweiz verbrachte“ auch in anderen durchaus zitierfähigen Publikationen kann man ähnliches lesen. Also hat das Gerücht mittlerweile die Reputation einer Tatsache erreicht. Da gibt es also nicht mehr wirklich was zu hinterfragen und selbst wenn es irgendwann mal einen schlagkräftigen Beweis gäbe, dass Kim Jong Un nicht in der Schweiz unterrichtet wurde, dann wird das wohl nicht ausreichen, diese in den letzten Jahren konstruierte Realität aus der Welt zu schaffen. Sie wird neben der neuen, vermutlich wahreren Realität bestehen bleiben und bei Bedarf (wenn man irgendwas damit beweisen oder untermauern will) aus der Schublade gezogen.
Naja…
Naja, ihr wisst jedenfalls Bescheid und wenn die Geschichte am Ende doch stimmt, dann ist man dann ja immernoch früh genug dran, dies für sich als Tatsache zu akzeptieren.
P.S. Achso, nachdem ich jetzt so wild alle möglichen Leute und Institutionen gescholten habe, möchte ich auch noch kurz darauf hinweisen, dass nicht die Gesamtheit der Medien bereit war, das Gerücht für sich akzeptieren. Dieser schöne Artikel in der Aargauer Zeitung hat meiner Meinung nach gut aufgearbeitet, was an der Geschichte Tatsachen sind und was sich auf Vermutungen etc. bezieht. Meine Gratulation an den Autor.
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