Die Guten, die Bösen und die Anderen — Südkoreanische Soldaten erschossen Flüchtenden

Letzte Woche war mir schonmal ein Artikel ins Auge gestochen, den ich sehr spannend fand, aber naja, ich hatte leider keine Zeit. Allerdings wurde das Thema heute von anderer Seit nochmal aufgegriffen und damit auch wieder in mein Bewusstsein gerückt und so kommt es, dass ich mich dem doch noch widmen kann.
Es geht um den Fall eines Südkoreaners, der über die Grenze in den Norden fliehen wollte, allerdings von südkoreanischen Soldaten aufgehalten wurde. Nachdem er in den Grenzfluss Imjin gesprungen und auf Warnrufe und -schüsse nicht reagiert hat, stoppten ihn mehrere hundert Kugeln aus südkoreanischen Gewehren. Von südkoreanischer Seite hieß es, das Vorgehen sei gerechtfertigt, weil das Militär den Befehl habe jeden zu erschießen, der versuche in den Norden zu fliehen und auf Aufforderung nicht davon ablasse.
Gestern reagierte Nordkorea auf den Vorfall und warf dem Süden „barbarisches Verhalten“ vor, indem man einen „unbewaffneten Mann hinterrücks getötet habe, der auf der Suche nach einem anderen Leben gewesen sei.“ Natürlich ist diese Äußerung der nordkoreanischen Komitees zur friedlichen Vereinigung der Koreanischen Halbinsel reine Propaganda, denn was mit Nordkoreanern passiert, die den umgekehrten Weg nehmen möchten ist hinlänglich bekannt. Nichtsdestotrotz bietet die südkoreanische Seite in diesem Fall auch eine breite Angriffsfläche  für solche Propaganda. Denn mal rein objektiv betrachtet, war es wirklich ein unbewaffneter Mann, der da hinterrücks erschossen wurde. Ob er „unschuldig“ war, das weiß ich nicht, aber das kommt ja auch immer auf den Maßstab an, mit dem Mann „Schuld“ misst. Jedenfalls ist von ihm erstmal keine Bedrohung ausgegangen. Und trotzdem wurde er erschossen.

Was die Guten von den Bösen unterscheidet

Ich muss ganz ehrlich zugeben, dass mich das ein ordentliches Stück weit schockiert. Denn eigentlich ist das doch genau das, was die Guten von den Bösen unterscheidet. Die Guten sind diejenigen, bei denen Recht und Gesetz gilt, bei denen erst gefragt und dann geschossen wird, bei denen ein Unschuldiger nicht fürchten muss, vom Staat verfolgt und getötet zu werden. Das machen doch die Bösen. Nordkorea ist das Land, aus dem keiner gehen darf, wenn die Führung es nicht will, in dem Flucht unter Strafe steht und aus dem eigentlich alle weg wollen.
Naja, so ungefähr stellt man sich das eigentlich ganz gerne vor und das ist grundsätzlich auch nach wie vor meine Wahrnehmung der Welt. Aber solche Zwischenfälle lassen mich dann doch immer mal wieder nachdenklich werden. Denn mal ganz ehrlich. Wenn ein Typ aus dem Süden in den Norden flieht, was kann der denn schon im Gepäck haben, was es rechtfertigen würde ihn zu erschießen. Ich meine, vollkommen klar, der Mann verstößt gegen südkoreanisches Recht und ist auf bestem Wege sich der Strafverfolgung zu entziehen. Nichtsdestotrotz rechtfertigt das in keiner Weise in durch Tötung daran zu hindern.
Ich weiß nicht mehr genau, wie das in der deutsch-deutschen Geschichte war. Klar, das im Osten Menschen von Mauerschützen getötet wurden steht außer Frage. Aber an einen Fall in die Entgegengesetzte Richtung kann ich mich nicht erinnern, bzw. davon habe ich nicht gehört. Vermutlich hätte es auch nicht die Mauerschützenprozesse gegeben, wenn ein westlicher Grenzer einen Westdeutschen auf der Flucht erschossen hätte. Generell war sowas auch einfach nicht nötig, denn die Grenze in Richtung Osten war viel durchlässiger. Man konnte nach Ostdeutschland auswandern und das haben in den 40 Jahren der Teilung auch eine halbe Million Menschen gemacht (man findet in deutschen Medien nicht viel darüber, vielleicht weil das Thema nicht zur (west-)deutschen Erinnerungskultur passt). Man musste also nicht durch Grenzflüsse schwimmen oder sowas und damit waren auch keine Grenzer in der Situation zu überlegen ob sie schießen sollen.
In Korea ist das nun passiert. Sollte es irgendwann zu einer Wiedervereinigung kommen, werden solche Unrechtsfälle die Aufarbeitung der Geschichte auf beiden Seiten ungemein erschweren. Die südkoreanische Siegerseite wird keine Soldaten verurteilen, die Befehlen gefolgt und dabei einen unschuldigen getötet haben. Aber mit welchem Recht kann man dann Nordkoreaner verurteilen, die in der gleichen Situation waren? Entweder man lässt es sein, oder man greift zur Siegerjustiz. Ersteres wird langfristig zu Problemen führen, letzteres unmittelbar.

Ehrlicher und offener Diskurs im Süden tut Not

Daher wäre es im höchsten Interesse des südkoreanischen Staates und der südkoreanischen Gesellschaft, in einen eingehenden und ernstgemeinten Diskurs über solche Zwischenfälle und damit verbunden über den Umgang mit Nordkorea einzusteigen. Nur so kann sich die südkoreanische Gesellschaft mental auf eine mögliche Wiedervereinigung vorbereiten und das eigene Selbstbewusstsein und Selbstverständnis stärken. Jedoch wird der Vorfall von den südkoreanischen Medien eher totgeschwiegen (soweit ich das wahrgenommen habe) und das deutet eher auf eine Weiter so hin. Keine guten Vorzeichen für die innerkoreanische Zukunft, wie ich finde.
Hier hat der Süden noch viel Arbeit zu leisten, denn so wie ich das wahrnehme, hat man dort noch kaum Vergangenheitsbewältigung betrieben. Die Konservativen verharren deshalb häufig in alten Reflexen und versuchen alle Progressiven als Pro-Nordkoreaner hinzustellen. Die Linken auf der anderen Seite kommen mit ihren früheren Verbindungen zu Nordkorea (die es zweifelsohne gab) nicht klar und stehen daher ebenso einer echten Aufarbeitung im Wege. Das Ergebnis ist für alle schlecht. Es wäre mal an der Zeit, dass alle erstmal für sich und dann gemeinsam sich mit ihrer eigenen Schuld und Vergangenheit befassen, dann kann es auch zu einem selbstbewussten und aufrichtigen Umgang mit Nordkorea kommen. Vorher ist das alles ein Minenfeld voller Tabus, das immer neue Schuld und Tabus erzeugt. Der Fall des erschossenen Mannes ist ein Beispiel, die intransparente und vielleicht sogar unehrliche Analyse der Cheonan ein anderes.

Wenn die Guten Böses tun. Sind es dann noch die Guten?

Abschließend noch ein paar Worte zu meiner Kritik an Südkorea: Damit will ich nichts, was der Norden tut relativieren. Es ist unbestritten, dass im Norden unmenschliche und brutale Menschenrechtsverletzungen ein Teil des Systems sind. Wer das nachlesen will, kann es beispielsweise sehr gut auf der Seite der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen zu Menschenrechten in Nordkorea tun, die dieses Jahr eingerichtet wurde und vor ein paar Tagen erstmals einen Zwischenbericht vorstellte). Das ist im Süden nicht so. Aber man darf beide Systeme nicht mit dem gleichen Maß messen. Wer sich im Selbstverständnis als freiheitlich demokratischen Rechtsstaat begreift, der darf nicht nach dem Motto „Der Zweck heiligt die Mittel“ vorgehen. Und wenn das heißt, jemanden laufen zu lassen, der vielleicht ein Spion  ist, dann ist das so. Einem Rechtsstaat sollte das lieber sein, als einen „Unschuldigen“ zu töten. Leider entwickelt sich die Welt angeführt von den USA in den letzten Jahren in eine andere Richtung. Sobald jemand ruft: „Terrorist“ sind extralegale Tötungen, unter Inkaufnahme von Kollateralschäden und die Inhaftierung, auch von Personen die nachweislich keine Schuld auf sich geladen haben, außerhalb sonst gültiger  Rechtsnormen, vollkommen Ok.
Ich weiß nicht genau, aber ich stelle mir manchmal die Frage, ob es irgendwo eine Grenze gibt, die die Guten von den Bösen unterscheidet und ob wir merken wenn wir diese Grenze überschreiten, oder ob wir diese Erzählung von Gut und Böse nur für uns selbst aufrechterhalten, weil es keine andere für uns Moralisten erträgliche Begründung für  unser Vorgehen gibt.

2 Antworten

  1. Wer ist der Gute, wer der Böse?

    Wie war das, mit Ying und Yang? Beide sind bipolar so verschieden, und doch sind sie das Gleiche, sie sind einfach eins; gäbe es in sich keinen Unterschied, dann gäbe es das Ganze gar nicht …

    Eines würde mich noch interessieren; wo betrat (beschwamm) der Erschossene denn tatsächlich das (südkoreanische) militärische Sperrgebiet?

    Denn abgesehen von gleich nordwestlich von Paju (wo der Imjin-Fluß auf etwa nur einen Kilometer die tatsächliche Grenze zu Nordkorea darstellt) schlängelt sich der Fluß flußaufwärts dann friedlich durch rein südkoreanisches Staatsgebiet. Ich sah eine südkoreanische Karte (von yonhapnews), wo der Erschossene angeblich in den Imjin-Fluß stieg, aber hätte er genau dort den Imjin-Fluß durchquert, wäre er doch nur wieder in Südkorea angekommen? …

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